Gartenstadt Hellerau
Die Gartenstadt Hellerau ist eine traditionsreiche Kultur- und Industriesiedlung im Stadtteil Hellerau mit kleinen Reihenhäusern im Stil der Reformarchitektur. Sie wurde von Karl Schmidt am 4. Juni 1908 als erste deutsche Gartenstadt überhaupt gegründet.[1] Viele weitere Gartenstädte später nahmen sich ihr Konzept des naturnahen Wohnens zu sozialverträglichen Bedingungen zum Vorbild. Die Hellerauer Tradition ist bis heute lebendig geblieben, das Motto „Leben und Arbeiten, Kultur und Natur” ist so aktuell wie vor 100 Jahren. Seit Oktober 2005 befindet sich das Areal im Programm Städtebaulicher Denkmalschutz[2]. Obwohl mit dem Gebiet in den letzten Jahrzehnten meist behutsamer umgegangen wurde als mit anderen Stadtteilen, war doch ein erheblicher Sanierungsbedarf entstanden. Am 26. Juli 2012 hat die Sächsische Staatsregierung beschlossen, die Gartenstadt Hellerau als sächsischen Kandidaten für die ab 2016 geltende deutsche Vorschlagsliste für das UNESCO-Weltkulturerbe zu nominieren.[3]
[Bearbeiten] Gesellschaftlicher Hintergrund
Das unaufhaltsame Wachstum der Großstädte im 19. Jahrhundert hatte die Bodenpreise europaweit in die Höhe getrieben. Von 1871 bis 1895 stieg der Anteil der Einwohner der acht deutschen Großstädte an der Gesamtbevölkerung von knapp 5 Prozent auf nahezu 19 Prozent. Allein in dem Jahrzehnt von 1880 bis 1890 wuchsen die Großstädte um 111 Prozent, die Kleinstädte um 24, die Landbevölkerung aber nur um reichlich 1 Prozent. Individuelles Wohnen im urbanen Raum wurde unmöglich, überfüllte Mietskasernen wurden zur Heimstatt der Industriegesellschaft. Die internationale Gartenstadtbewegung knüpfte an eine daraus resultierende, scheinbar gegenläufige Tendenz an: die Abwanderung gewerblicher Betriebe aus der Großstadt. Damit sich Arbeit und Arbeiter aber nicht weiter voneinander entfernten, empfahl man den Betrieben, sich mit ihrer Arbeiterschaft auf billigem Neuland in geeigneter Verkehrslage gemeinsam anzusiedeln.
[Bearbeiten] Karl Schmidt und die Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst
In Dresden errichteten die Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst unter Karl Schmidt in Hellerau eine solche Ansiedlung. Sie wurde zum Beispiel für eine zweckkünstlerische Gestaltung, wie sie auch zu den Visionen des Deutschen Werkbundes gehörte. Dieser Wandel zur Sachlichkeit war weniger geschmacksbedingt, sondern erwies sich aufgrund sozialer Randbedingungen und ökonomischer Notwendigkeiten als alternativlos. Ideologisch wurde dieses Gedankengut vom Dürerbund weit verbreitet. Gartenstadt, Werkbund und Dürerbund bildeten die Säulen einer Kulturreformbewegung, von der ganz Deutschland erfasst war und zu deren Zentren Dresden im frühen 20. Jahrhundert gehörte. Zu den wichtigsten Aktivisten neben Schmidt zählte Ferdinand Avenarius als Vorstandsmitglied, Mitinitiator bzw. Gründer von Werkbund, Deutscher Gartenstadt-Gesellschaft, Dürerbund und Bund Heimatschutz.
Karl Schmidt, der Leiter der Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst, suchte um 1906 für seine Fabrik, für die es in Dresden zu klein geworden war, ein neues, erweiterungsfähiges Gelände. Der Gartenstadtgedanke, den Schmidt auf seiner Wanderschaft in England kennengelernt hatte, verband sich mit der ökonomischen Betrachtung, dass Menschen, die in gesunder Luft und angenehmen Lebensverhältnissen wohnen, qualitativ bessere Arbeit würden leisten können. Schmidt plante die Gartenstadt mit Wolf Dohrn und Richard Riemerschmid ab 1907. Sie gründeten 1908 die Gartenstadt-Gesellschaft-Hellerau m.b.H. und die Baugenossenschaft Hellerau G.m.b.H. Dohrn vermeldete dies in der Nr. 55 im Dresdner Anzeiger mit dem Artikel "Hellerau. Eine Gartenvorstadt bei Dresden". Um den Kern einer Anlage von Kleinwohnungen für die Arbeiter sollten sich Landhäuser und öffentliche Gebäude sowie Plätze und Gärten anschließen, dazwischen Ferien- und Sommerhäuser für den Mittelstand. Mit der Einrichtung einer gemeinnützigen Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gartenstadt Hellerau verschmolzen die wirtschaftlichen und ideellen Ziele. Das Gartenstadt-Unternehmen wurde anfangs allein von den Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst getragen und war vorrangig für den Bau und die Vermietung der Villen zuständig. Die Deutschen Werkstätten erwarben lediglich das für ihre Fabrik notwendige Land. Die Gartenstadt-Gesellschaft wurde mit einem Kapital von 300.000 Mark gegründet. Sie reichte das Land an die privaten Bauherren weiter, vor allem aber an die Baugenossenschaft Hellerau. Ein über eine 4-prozentige Dividende reichender Gewinn floss wiederum gemeinnützigen Zwecken zu.
[Bearbeiten] Anlage der Gartenstadt
Das von den Deutschen Werkstätten erworbene Acker- und Waldland nahe der Dresdner Heide lag auf den Fluren der Gemeinden Klotzsche und Rähnitz. Vom Dresdner Stadtzentrum ist es etwa 6,5 Kilometer entfernt. Bei einer Höhenlage von 177 bis 215 Metern ist es 100 Meter höher als Dresden gelegen. Für die Gründer der Gartenstadt war nicht nur die bessere Luftqualität als in der Stadt entscheidend, der Boden, zumeist Sandgrund auf Syenitboden, eignete sich hervorragend für Gemüse- und Obstanbau. Die Besitzer des ca. 150 Hektar großen Gebietes, dreiundsiebzig Bauern, erhielten im Durchschnitt 1 bis 1,50 Mark für den Quadratmeter. Hinzu kamen Erschließungskosten von ca. 1,50 Mark.
Die Planer der Gartenstadt unter Leitung des Architekten Richard Riemerschmid und Wolf Dohrn für die Organisation zogen weitere bedeutende Architekten für die bauliche Gestaltung heran, so Hermann Muthesius, Theodor Fischer und Heinrich Tessenow. Zudem schufen sie einen eigenen Sachverständigenausschuss, der alle Baugesuche für das gesamte Plangebiet vor der Einreichung bei der Gemeindebehörde zu prüfen hatte, die Bau- und Kunstkommission Hellerau. Damit wurde nicht nur sicher gestellt, dass die Bebauung in einer künstlerischen Weise erfolgte, sondern auch ein sparsamer Umgang mit Platz gewährleistet, der im Zusammenwirken mit speziellen Konstruktionsprinzipien (Holzrahmenbau) die Kosten senken sollte.[4] Am 14. Juni 1909 wurde mit dem Bau der ersten Hausgruppe Am grünen Zipfel nach Richard Riemerschmids Plänen begonnen. Sie umfasste sieben verschiedene Wohnungstypen mit einer Nutzfläche von 46 bis 85 Quadratmeter und zu Mietpreisen von 250 bis 380 Mark. Der durchschnittliche Mietpreis für den Quadratmeter Nutzfläche betrug in den Reihenhäusern 4,80 Mark, in den freistehenden Einfamilienhäusern 5,97 Mark; während er z. B. in den Etagenhäusern des Allgemeinen Mietbewohnervereins zu Dresden 5,88 Mark betrug. Im Jahre 1907 wurde vom Rat der Stadt Dresden ein durchschnittlicher Mietpreis einer Wohnung mit vier Räumen von 375 Mark festgestellt. Die Mietpreise der Häuser der Gartenstadt waren also erheblich billiger als selbst jene von genossenschaftlichen Trägern. Die Kleinhäuser blieben zunächst im Besitz der Gesellschaft, um Spekulationen auszuschließen Die Genossenschaftsmitglieder konnten ihre Anteile im Wert von 200 Mark in Raten bezahlen. Die Mieter erhielten ein Erbmietrecht, das nur sie kündigen konnten, die Gesellschaft nicht.[5]
Die Gartenstadt wurde von Richard Riemerschmid klar gegliedert. Ein Kleinhausviertel mit 34 Typen von Reihenhäusern, jedes mit eigenem Garten, ein Villenviertel mit etwa 20 Landhäusern, die Versorgungseinrichtungen mit Volksschule und das Gelände der Deutschen Werkstätten Hellerau waren übersichtlich voneinander getrennt. Großzügige Straßen und viel Grün machten das Viertel attraktiv. Schon nach dem ersten Bauabschnitt 1913 wohnten 400 Familien vor Ort, insgesamt etwa 1900 Einwohner.
Auf dem Sand 4, Entwurf von Heinrich Tscharmann
Auf dem Sand 12, Entwurf von Heinrich Tessenow
[Bearbeiten] Eine Tanzschule von europäischem Rang
Am 22. April 1911 erfolgte die Grundsteinlegung für das heutige Festspielhaus Hellerau nach Plänen von Heinrich Tessenow. Nach der Fertigstellung 1912 richtete hier der Schweizer Tanzpädagoge Émile Jaques-Dalcroze seine berühmte Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus ein. Das Festspielhaus zog seine Besucher aus ganz Europa an, den Hellerauer Kindern wurden kostenlose Übungsstunden geboten. An der Tanzschule wirkten bekannte Pädagogen, darunter Christine Baer-Frisell, Nina Gorter, Valeria Kratina, Marie Adama van Scheltema, Irma Schoenberg, Johanna Suppes. Mit dem Tod von Wolf Dohrn und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges endete dieser vielversprechende Start abrupt. Die später neugegründete Schule Hellerau für Rhythmus, Musik und Körperbildung zog 1925 nach Schloss Laxenburg bei Wien. Bekannte Schüler in Hellerau waren:
Rosalia Chladek | Elfriede Feudel | Valeria Kratina | Marie Elisabeth Scheiblauer | Mary Wigman
[Bearbeiten] Bekannte Bewohner der Gartenstadt
Friedrich Bienert | Walter Chrambach | Wolf Dohrn | Kurt Frick | Marie von Geldern | Nina Gorter | Durs Grünbein | Émile Jaques-Dalcroze | Margarete Junge | Charlotte Krause | Gustav Lehmann | Georg Mendelssohn | Dore Mönkemeyer-Corty | Thomas Nitschke | Alfons Paquet | Alexander von Salzmann | Karl Schmidt | Ernst Schnorr von Carolsfeld | Paul Sinkwitz | Heinrich Tessenow
Wolf Dohrn verlegte 1909 die Geschäftsstelle des Deutschen Werkbundes nach Hellerau. Wegen der engen Verbindungen zum Werkbund ist es verständlich, dass seinerzeit eine größere Anzahl der Einwohner der Gartenstadt Werkbündler waren.[6]
[Bearbeiten] Das vorläufige Ende des großen Aufbruchs
Der Erste Weltkrieg beendete den großen Aufbruch in Hellerau. Richard Riemerschmid und auch Heinrich Tessenow hatten Hellerau verlassen, Wolf Dohrn war 1914 tödlich verunglückt. Auch Émile Jaques-Dalcroze und seine Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus verließen den Ort. 1923 wurden 336 Kleinhäuser wegen der Inflation in Privatbesitz überführt. In der Zeit der Weimarer Republik entstanden der "D-Zug" aus elf zusammenhängenden Einfamilienhäusern, das Hellerauer Rathaus und der Marktplatz.[7] Den Nationalsozialisten fehlte für die Hellerauer Ideen jedes Verständnis, die Deutschen Werkstätten Hellerau wurden in die Kriegswirtschaft eingegliedert. Nach dem Zweiten Weltkrieg residierte die Sowjetarmee im Festspielhaus Hellerau.
[Bearbeiten] Die Gartenstadt Hellerau heute
Das Gebäudeensemble der Deutschen Werkstätten, 1909/1910 von Richard Riemerschmid als Fabrik für moderne Reformmöbel in Form einer Schraubzwinge entworfen, bietet heute ein vielfältiges Angebot an Veranstaltungsräumen und Gewerbeflächen. Zahlreiche innovative Unternehmen haben sich etabliert und bieten den 400 Wissenschaftlern, Technikern, Architekten und Künstlern optimale Arbeitsmöglichkeiten in einem historischen Ambiente.[8] Die Deutschen Werkstätten Hellerau selbst wurden 1992 reprivatisiert. Heute arbeiten etwa 200 Menschen für das Unternehmen in Hellerau. Hinzu kommen etwa 30 Mitarbeiter im Ausland. Es werden aber keine Möbelserien mehr hergestellt, sondern hochwertige Einzelstücke. Dabei arbeitet man auch heute wieder mit hervorragenden Künstlern zusammen. Seit 2006 ist das Unternehmen in einem modernen Neubau ansässig.
1992 ging das Festspielhaus Hellerau in den Besitz des Freistaates Sachsen über, der das Areal seitdem saniert hat. 1996 konnte ein ehemaliges Pensionshaus im Festspielhausgelände als Werkbundhaus eingeweiht werden. Es ist der Sitz der sächsischen Geschäftsstelle des Deutschen Werkbundes. Im Jahre 2002 zog das Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik auf das Festspielhausgelände. Seit dem 1. Januar 2004 firmiert es als Europäisches Zentrum der Künste Hellerau. Bis zum 7. September 2006 wurden die Innenräume im Stil Heinrich Tessenows erneuert. Seit 2009 steht das Haus wieder das ganze Jahr seinen Besuchern offen. Wie schon zur Gründungszeit ist man in Hellerau auch heute dem Neuen aufgeschlossen. Zeitgenössischer Tanz und zeitgenössische Musik sowie modernes Theater und bildende Kunst machen Hellerau zu einem "Laboratorium der Moderne". Die Dresden Frankfurt Dance Company hat hier ihre Heimstatt und alljährlich wird das Festival CYNETart zu computergestützter Kunst veranstaltet.
[Bearbeiten] Quellen
- Erich Haenel: "Die Gartenstadt Hellerau". In: Die Kunst: Monatsheft für freie und angewandte Kunst, 1911, München F. Bruckmann, S. 297-344
- Chronik: 50 Jahre Gartenstadt Hellerau: Festschrift, 1959
[Bearbeiten] Einzelnachweise
- ↑ Arnold, Klaus-Peter, „Schmidt, Karl“, in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 201-203
- ↑ http://www.dresden.de/de/stadtraum/planen/stadtentwicklung/stadterneuerung/staedtebauliche_denkmalschutzgebiete.php
- ↑ Gartenstadt Hellerau geht ins Welterbe-Rennen bei SZ-online
- ↑ Stefan Müller: "Festspielhaus Hellerau". Diplomarbeit, 1996
- ↑ Friedrich Kummer, Paul Schumann: Dresden und das Elbgelände
- ↑ Mitgliederverzeichnis Deutscher Werkbund, 1913
- ↑ Hellerau bei www.dresden-und-sachsen.de
- ↑ GebäudeEnsemble Deutsche Werkstätten Hellerau
[Bearbeiten] Literatur
- Klaus-Peter Arnold: Vom Sofakissen zum Städtebau: die Geschichte der deutschen Werkstätten und der Gartenstadt Hellerau. Verlag Verlag der Kunst, 1993
- Hans Kappler: "Bei Jaques-Dalcroze in Hellerau". Neue Zeitschrift für Musik, 1. Februar 1921, S. 49-55
- Erich Haenel: "Das Holzhaus der Deutschen Werkstätten". In: Die Kunst: Monatsheft für freie und angewandte Kunst, 1921, Bd. 24, München F. Bruckmann, S. 201-207
- Heicke: "Erfolge der deutschen Gartenstadtbewegung". In: Die Gartenkunst, Bd. 14, 1912, S 349-354
- Die deutsche Gartenstadtbewegung. Zusammenfassende Darstellung über den heutigen Stand der Bewegung. Verlag der deutschen Gartenstadt-Gesellschaft, Berlin 1911. Digitalisierte Ausgabe der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf
- Juliane Felsch; "Die Gartenstadt Hellerau: Unter besonderer Berücksichtigung der Architekten Richard Riemerschmid & Heinrich Tessenow". GRIN Verlag, 2010
- Thomas Nitschke: Die Gartenstadt Hellerau als pädagogische Provinz. Hellerau-Verlag. Dresden 2003
- Thomas Nitschke: Die Geschichte der Gartenstadt Hellerau. Hellerau-Verlag. Dresden 2009
- Thomas Nitschke: Als über Hellerau der Sowjetstern strahlte. Notschriften-Verlag. Radebeul 2014
- Durs Grünbein: Die Jahre im Zoo. Suhrkamp-Verlag. Frankfurt/M 2015.